HANDLUNGSFELDER AUF BUNDESEBENE FÜR ZUKUNFTSFÄHIGE PERSPEKTIVEN EINER KULTURELLEN STADTENTWICKLUNG

FORDERUNGSKATALOG DER LIVEKOMM AG KULTURRAUMSCHUTZ (V2)

  1. Einstufung von Musikclubs als Anlagen kultureller Zwecke gemäß BauNVO
    Musikclubs mit nachweisbar kulturellem Bezug sind gemäß Koalitionsvertrag mit der nächsten Novelle des BauBG als Anlagen kultureller Zwecke im Sinne der BauNVO einzuordnen. Vorzugswürdig erscheint laut Fachliteratur eine Regelung angelehnt an § 13a BauNVO (isolierte Regelungen zu Ferienwohnungen), so dass der Wille des Verordnungsgebers explizit in einem eigenständigen Paragraphen zum Ausdruck kommt.
    Eine rechtssichere Definition des Verordnungsgebers für Musikclubs mit nachweisbaren Bezug wäre für die Rechtsprechung und kommunale Praxis vielfach von großen Wert, um vorhandene Unsicherheiten aufzulösen. Zudem wäre es ein wirksames Signal vom Bund in die Kommunen, die Rollen und den Umgang mit Musikspielstätten zu reflektieren und Anpassungen auf Landesebene anzugehen.
    Die Normierung von Musikspielstätten als Anlagen kultureller Zwecke stellt eine rechtliche Aufwertung im Rahmen der Baunutzungsverordnung dar. Eine entsprechende Änderung hat vor allem auch symbolische Bedeutung, um diese Orte die höhere gesellschaftliche Anerkennung zu kommen zu lassen. Damit ist noch keine abschließende Aussage über ihre bauplanungsrechtliche Zuverlässigkeit in den jeweiligen Baugebieten betroffen. Entsprechende Bedenken bezüglich von möglicherweise zu erwartenden Lärmemissionen ließe sich dabei weiterhin auf Ebene des Einzelfalls zu prüfenden Rücksichtnahmegebots ausreichend Rechnung tragen.
    Anlagen kultureller Zwecke sollten künftig auch in Gewerbegebieten (unter § 8 Abs. 2) und in Industriegebieten (unter § 9 Abs. 2) zulässig sein.
  2. Erarbeitung eines Kulturraumschutzgesetzes
    Analog zum Bundesnaturschutzgesetz schlagen wir die Erarbeitung eines Bundeskulturraumschutzgesetzes vor. Ebenso wie Natur und Landschaft sind kulturelle Orte Schutzgüter. Kulturorte sind teilweise über Jahrzehnte gewachsen, haben maßgeblich zu Kulturförderung, Stadtentwicklung und Identitätsbildung unserer Gesellschaft beigetragen und laufen bei Verdrängung Gefahr, unwiederbringlich verloren zu gehen.
    Daher sollte auch hier oberster Grundsatz sein, vermeidbare Verdrängungen von Kulturorte sind zu unterlassen, unvermeidbare müssen durch Ausgleichs- oder Ersatzmaßnahmen kompensiert werden.
    Besonders zweiter Teil des Grundsatzes würde Investoren verpflichten, verdrängte Kulturorte entsprechend zu unterstützen, so dass sie an Ersatzstandorten weiter existieren können – oder man sich noch eingehender mit der Planung befasst.
  3. Bodenfonds für Live-Kultur einrichten
    Eine der größten Bedrohungen für die Live-Kultur ist die urbane Verdichtung sowie steigende Gewerbemieten und die Kündigung bestehender Mietverhältnisse. Es gilt daher – analog zur Wohnraumschaffung (siehe auch https://nds.rosalux.de/news/id/42888/bodenfonds oder https://difu.de/sites/default/files/media_files/2020-09/2020_09_28_Policypaper-Wohnungsbau_Difu_IMK-B%C3%B6ckler_Uni-Mannheim_2.pdf), wie z. B. in Mannheim – einen „Bodenfonds für Live-Kultur“ mit ersten Mitteln auszustatten, der den Kauf oder Übernahme von Grundstücken und Liegenschaften ermöglicht, um bedeutsame Kulturräume und Flächen für wegweisende (Pop)Kultur in Deutschland zukünftig zu erwerben, zu sichern und langfristig zu erhalten. Die Bundesstiftung LiveKultur ist mit diesem Ziel 2021 errichtet worden, um nach Übernahme diese Flächen der Live-Kultur als Bestandteil der deutschen Kulturlandschaft wieder mit tragfähigen, langfristigen Verträgen zur Verfügung zu stellen.
  4. Schallschutzprogramm
    Die LiveKomm hat zur Bundestagswahl 2021 ein Förderprogramm für städtische Musikspielstätten und Musikfestivals im ländlichen Raum entwickelt. Mit jährlich bis zu 55 Mio. Euro würden akute Konfliktlagen durch Übernahme von baulichen Maßnahmen, Kosten für Gutachter und nachbarschaftliche Aushandlungsprozesse des dialogischen Konfliktmanagements finanziert werden. Wir fordern daher, einen Haushaltstitel im Bundeshaushalt ab 2024 (z. B. in der Städtebauförderung; Lebendige Zentren oder Sozialer Zusammenhalt) zur Lösung von Nutzungskonflikten zwischen Club- und Live-Kultur/ Musikspielstätten und heranrückender Wohnbebauung. Dieser Bundestopf könnte ggf. durch Landesmittel ko-finanziert und über Kommunen beantragt werden.
  5. Gewerbemieten/-schutz
    Kulturelle Akteure verfügen in der Mehrzahl nur über Gewerbemietverträge, die über das Gewerbemietrecht sehr mieterunfreundliche, gesetzliche Regelungen enthalten. Neben weiteren Ursachen führt dies zu einer Verdrängung gerade kleinerer, unter das Gewerbemietrecht fallende Unternehmer aus den Innenstädten. Jüngste Anträge im Deutschen Bundestag führten zur einer Anhörung von Sachverständigen im Mai 2021.
    Anpassungen des bislang weitgehend ungeregelten Gewerbemietrechts mit dem Ziel der
    Wiederherstellung des für den Markt wichtigen Gleichgewichts zwischen Vermieter- und Mieterseite (Stichworte: Kündigungsschutz, Mietobergrenzen bzw. Mietenspiegel für Gewerbemieten) sind dringend erforderlich.
  6. Kultur-Kataster einführen & verbindlich machen / Agent of Change einführen
    Neue, heranrückende Wohnungen bilden eine Kernherausforderung für bestehende Musikclubs. Wohnbebauungen erhalten Bestandsschutz ab Baugenehmigung. Wird die dazu ergangene Baugenehmigung bestandskräftig, kommt in Deutschland das Verursacherprinzip zum Tragen. Eine geeignete Abwehr kann nur vorher erfolgen. Die Kernfrage lautet daher: Wie können folgenschwere Baugenehmigungen vermieden bzw. rechtzeitig mit einem sachgerechten Interessenausgleich versehen
    werden?
    Um schützenswerte Kulturorte in der Bauplanung frühzeitig zu identifizieren, gilt es zunächst einen flächendeckenden Einsatz von Kultur-Katastern (ähnlich, wie in Leipzig, Köln, Hamburg und Berlin) zu befördern und diese Tools in der Stadtplanung verbindlich zu machen. Dies könnte u.a. durch eine Ergänzung § 9 Abs. 5 BauGB (Kennzeichnung von Bebauungsplänen) erfolgen, in dem neben Bergbau und Altlasten auch gewachsene Kulturräume mit städtischer Bedeutung in Bauplänen verpflichtend zu verzeichnen wären.
    Sind darüber konfliktbehaftete Investorenvorhaben mit benachbarten Musikclubs identifiziert, gilt es diese in die Pflicht zu nehmen, um sicherzustellen, dass die Live-Musik als kulturelle Einrichtung geschützt bleibt.
    In San Francisco müssen seit der „London Breed“-Novelle im Jahr 2015 Projektentwickler:innen, die Wohnungsbau vorschlagen, an einer Anhörung vor der lokalen „Entertainment Kommission“ teilnehmen.
    Dieses Gremium hat auch die Befugnis erlaubte Lärmwerte festzulegen und eine Bewertung des Immobilienvorhabens vorzunehmen. Dadurch soll sichergestellt werden, dass Finanzmittel und Maßnahmen eingeplant und später unternommen werden, um den Kulturbetrieb zu schützen. Wir fordern eine Adaptierung in Deutschland.
  7. Umsteuern beim Bundesimmissionsschutzgesetz
    Musik ist für sehr viele Menschen ein Stück ihrer Lebensqualität und kein Lärm, der wie die Industrie, Gewerbe oder Verkehr durch ständige Präsenz die Gesundheit schädigt. Schallemissionen von Kulturschaffenden müssen als privilegiertes Sonderrecht aus der TA Lärm getrennt und analog – wie die Emissionen von Sport- und Kinder-“lärm“ – gesondert in einer „Kulturschallverordnung“ behandelt werden.
    Anknüpfend an den Koalitionsvertrag fordern wir Änderungen in der TA Lärm über die Implementierung einer Experimentierklausel hinaus, wie z.B. die Einführung einer Gesamtlärmbetrachtung für Musikclubs und Festivals.
    Wir fordern zudem die Verlagerung der Messpunkte in das Wohnungsinnere und bei geschlossenem Fenster für die Erfassung nächtlicher Emissionsgrenzwerte. Durch eine ergänzende Zulassung passiver Schallschutzmaßnahmen im § 15 BauNVO wäre diese Messmethode künftig in Genehmigungsverfahren optional.
    Zudem gilt es die Forschung zu Urban Sound Design (Wie klingt die Stadt von heute und von morgen? Wie können Schallemissionen von Musikclubs und Festivals baulich oder technisch minimiert werden?) zu intensivieren und dafür entsprechende Innovationsprogramme aufzusetzen. Auch im Bereich Schall und Audio verfügt Deutschland über mehre mittelständische ‚Hidden Champions‘, deren Innovationskraft somit noch ausgebaut werden könnte.
    Wir regen daher grundsätzlich auch die Diskussion zur Schaffung eines – Arbeitstitel – ‚Supersonic‘ Innovations-Programm an, in dem bestehende, potentielle und zukünftige (Mittelstands-)Marktführer und StartUps im Bereich Schall, Lüftung, Brandschutz o. ä. gefördert werden. Allein Corona hat gezeigt, wie hoch der Innovationsdruck in diesen Fachbereichen im gesamten Veranstaltungsbereich vom Messe- über Kino-, Sport-, Event-, Hotel- und Gastro-Bereich bis hin zur unabhängigen sowie den Orten der klassische
    und unabhängigen „Hochkultur“ ist, mehr noch, als die reine Digitalisierung. Musikclubs als Kulturstätten sollen in der Herangehensweise dem Sport gleichgestellt werden und nach der Empfehlung des Bundesrats vom 25.02.2021 ebenfalls in „den Dialog mit dem LAI“ einbezogen werden: „Der Bundesrat bittet die Bundesregierung darüber hinaus einen Dialog mit Spitzenverbänden des Sports sowie den zuständigen Gremien der Bund/Länder Arbeitsgemeinschaft Immissionsschutz (LAI) mit dem Ziel zu initiieren, etwaige weitere Hemmnisse zu identifizieren und Lösungen zu erarbeiten.“
  8. Bundes-Plattform für interkommunalen Austausch- und Wissenstransfer
    Ausgehend von der Stadtverwaltung Köln wurde im Rahmen der Studie Integration von Kreativräumen in die Stadtplanung ein interkommunales Arbeitstreffen veranstaltet. Die Teilnehmenden haben eine Verstetigung und Erweiterung des Austausches zum Ziel, um Referenzen und übergeordnete Konzepte aus anderen Städten und Regionen zirkulieren zu lassen.
    Eine bundesweite Austauschplattform könnte als Wissenstransfer über Institutionen wie Deutscher Städtetag, Deutschland Interessenverband deutscher Kommunen und/oder Nationalen Stadtentwicklung erfolgen und verstetigt werden.
    Zudem sollte eine Publikation mit Good-Practice Beispielen als Handlungsempfehlung für kultur-integrierte Stadtentwicklung (ggf. über das BBSR) mit Bundesmitteln finanziert werden.
  9. Stärkung städtebaulicher Verträge auf Bundesebene
    Das kommunale Instrument für städtebauliche Verträge ist seitens der Bundesebene derart zu stärken, so dass entsprechende Auflagen für Investoren (siehe 2. und 6.) leichter von den Kommunen festzulegen sind.
  10. Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (BImA): Übertragung von Grundstücken
    Die Liegenschaftspolitik des Bundes kann durch die Überlassungen von Bundesliegenschaften (und der Deutschen Bahn) an Kommunen mit einer “Kultur-Klausel” ergänzt werden. Mit einer derartigen Klausel könnten kostengünstige Übertragungen (z.B. Erbbaupacht) bevorzugt an Genossenschaften, Stiftungen oder gemeinnützige Trägerschaften geregelt werden.
  11. Mustersatzung Free Open Airs
    Es gilt eine Mustersatzung auf Bundesebene zu entwickeln, an der sich die Kommunen, Gemeinden und Städte orientieren können, wie sie den Begriff des Gemeingebrauchs für die junge, kreative Nutzung öffentlicher Räume, insbesondere für Nachwuchs-Künstler und junge Kollektive, auslegen. Dabei sollte die Möglichkeit eingeräumt werden, unter bestimmten Voraussetzungen eine genehmigungsfreie Aneignung von öffentlichen Räumen durch nicht-kommerzielle Musik- und Partyveranstalter:innen zu schaffen. Free
    Open Airs sind zur wichtigsten, selbstorganisierten ‚Schule‘ für die qualitativen, jungen Veranstalter und Booker:innen von morgen und damit essentieller Bestandteil einer musikkulturellen Ökonomie in Deutschland geworden. Bremen und Leipzig haben hier mit den ersten ‚Freiluftpartygesetzen‘ für vereinfachte Genehmigungsvorgänge neue Maßstäbe gesetzt.
    Zudem sollte auf Bundesebene eine Anpassung der Musterbauordnung in die Wege geleitet werden, um Veranstaltungen (Festivals) bis zu einer bestimmten Größe verpflichtend baugenehmigungsfrei zu stellen.
  12. Genehmigungspraxis optimieren
    Die Verwaltungspraxis für Genehmigungsverfahren von Veranstaltungen (u.a. auch Festivals), Versammlungsstätten oder Nutzungsänderungen (z. B. von Gaststätte zur Gastronomie mit Live/Musikprogramm oder Gewerbefläche zu Versammlungsstätte) sind vielfach komplex, langwierig und kostenintensiv. Aus der Sicht von Kulturschaffenden wird es zunehmend als äußerst schwierig empfunden, sich in den bürokratischen Verwaltungsverfahren zur Erlangung der erforderlichen Genehmigungen und
    Vorgaben städtischer Behörden zu orientieren und zurechtzufinden. Für jüngere Veranstalter stellt es unter den gegeben, aufgebauten, bürokratischen Bedingungen eine fast nicht überwindbare Hürde dar. Diese Umstände führen häufig dazu, dass kulturelle Veranstaltungen ohne die erforderlichen Genehmigungen stattfinden, sie abgesagt oder verschoben werden müssen.
    Es bedarf Initiativen zur Vereinfachung (z. B. One-Stop-Verfahren), Verkürzung bzw. Beschleunigung (z. B. mehr Personal und/oder digitale Antragstools) und Einsparungen (z. B. Erfordernisse von (Prüf)Gutachten minimieren), um notwendige Antragsverfahren zu optimieren.
    Sollten hier Reformanstrengungen über eine Musterbauverordnung gelingen, könnte eine Harmonisierung von Regelungen in den Landesbauverordnungen erfolgen. Zudem sind bei Zwischennutzungen z. T. die Zuständigkeiten undefiniert und überreguliert und verursachen unnötigerweise ein vollständiges Baugenehmigungsverfahren. Mancherorts scheitern auch Vorhaben an Stellplatzanforderungen, die sich noch nicht an neue Mobilitätsgewohnheiten angepasst haben.
  13. Leerstand verpflichtet – Abschreibungen eindämmen
    Langfristig leerstehende Objekte sollten nicht dazu dienen, Gewinne steuerlich zu minimieren. Es gilt bestehende Möglichkeiten der Abschreibungen einzudämmen. Zudem sollten Zwischennutzungen aktiv befördert werden und von Eigentümer:innen einzufordern. Hierbei könnten politisch begleitete Moderationsverfahren bei bestimmten Verhandlungen zusätzliches Vertrauen schaffen.
  14. Arbeitsgruppe „Kulturräume“ auf Ebene der Bau- und Kulturminister:innenkonferenz KulturMK & BMK
    Neben einer Fachkommission Städtebau sollte auch eine Arbeitsgruppe „Kulturräume“ formiert werden, die sich u.a. unter Einbezug der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien und der Fachverbände, den hier angeführten Themenfeldern widmet und Beschlussvorlagen erarbeitet.
  15. Kultur-integrierte Stadtentwicklung auf die Agenda setzen – Neue Leipzig-Charta umsetzen
    Um die angeführten Themen bundesweit – aber auch auf Ebene der Länder und Kommunen – auf die Agenda zu bringen, soll dieses Themenfeld auf dem Kongress der Nationale Stadtentwicklung künftig im Hauptprogramm regelmässig platziert, besprochen und weiter entwickelt werden. Die LiveKomm ist weiter sehr daran interessiert, zur Verfügung zu stehen, um das Kuratorium der Nationalen Stadtentwicklung mit der Sicht der Veranstaltungskultur zu unterstützen.

Berlin/Hamburg, im Februar 2023
LiveKomm – AK Kulturraumschutz
Thore Debor, Hamburg – Sprecher & Marc Wohlrabe, Berlin/ Potsdam – Stellvertretender Sprecher und Stephan Benn, Köln; Anna Blaich, Mannheim; Steffen Kache, Leipzig; Heiko Rühl, Köln; Pamela Schobeß, Berlin